24

 

Panik brannte durch Rios Venen wie Säure.

Wieder krachte eine Maschinengewehrsalve durch die Nacht. Das scharfe Trommelfeuer kam von irgendwo aus der Nähe; in seinem Kopf war es wie Kanonenfeuer. Der Schock des plötzlichen Angriffs zuckte hell durch seine Sinne und erfüllte seinen Verstand mit einem dicken Nebel, in dem das Hier und Jetzt verschwand. Dylan, dachte er verzweifelt. Er musste sie in Sicherheit bringen.

Kaum war er sich seines Handelns bewusst, als er sie bei den Schultern packte und sie unter sich aufs Gras warf. Ihr erschrockener Aufschrei wurde gedämpft, er fühlte ihn mehr, als dass er ihn hörte, als er ihren Körper mit seinem bedeckte, bereit, sich für sie zu opfern. Sie zu beschützen war alles, was jetzt zählte. Aber als sie zusammen auf die harte Erde fielen, spürte Rio, wie sein Verstand zerbrach.

Vergangenheit und Gegenwart begannen zu verschmelzen, sich zu vermischen ... und wurden zu einem verschwommenen Gewirr von Gedanken.

Plötzlich war er wieder in dieser Lagerhalle - Lucan, Nikolai und die anderen Krieger waren dabei, eine Razzia auf ein Roguenest in Boston durchzuführen. Er sah hinauf zu den Dachsparren des verlassenen Gebäudes und registrierte Feindbewegungen in den Schatten.

Er sah das silberne Glänzen eines elektronischen Gerätes, das der Blutsauger in den Händen hatte. Er hörte, wie Niko eine Warnung rief, dass sie dort oben eine Bombe scharf gemacht hatten ... Ach, scheiße.

Rio brüllte auf, als der erinnerte Schmerz in seinem Kopf und jedem Zentimeter seines Körpers explodierte. Er fühlte sich, als stünde er in Flammen, Fleisch brannte, seine Atemwege füllten sich mit dem scharfen Gestank von versengter Haut und Haaren.

Kühle Hände legten sich auf sein Gesicht, aber er war zu weit weg, um zu erkennen, was real war und was ein Albtraum seiner jüngsten Vergangenheit.

„Rio?“

Er hörte eine leise Stimme, spürte, wie diese beruhigenden Hände über sein Gesicht strichen.

Und, von nicht weit weg, das Johlen und Hohngelächter einiger Jugendlicher. Es war begleitet vom Geräusch von Turnschuhen auf Asphalt, die sich nun schnell entfernten.

„Rio. Bist du in Ordnung?“

Er kannte die Stimme. Sie drang durch den anschwellenden Wahnsinn, der ihn umgab, eine Rettungsleine, die ihn im Dunkel seines Verstandes zugeworfen wurde. Er griff nach ihr, spürte, wie ihre Stimme ihm wieder Boden unter den Füßen gab, wo nichts anderes das jemals geschafft hätte.

„Dylan“, konnte er zwischen keuchenden Atemzügen stammeln.

„Will nicht, dass dir was passiert ...“

„Ich bin okay. Das waren nur Knallfrösche.“ Sie streichelte mit den Fingern über seine kalte, klamme Stirn. „Diese Jungs haben sie am Geländer losgehen lassen. Es ist jetzt okay.“

Von wegen.

Er spürte, wie einer seiner Anfälle aufzog, und zwar unmittelbar jetzt.

Mit einem Aufstöhnen rollte er sich von Dylan fort. „Scheiße ... mein Kopf ... kann nicht klar denken ...“

Sie musste sich zu ihm gebeugt haben, denn er fühlte ihren Atem auf seiner Wange, als sie einen leisen Fluch ausstieß. „Deine Augen, Rio. Scheiße, sie verändern sich ... sie glühen gelb.“

Er wusste wohl, dass sie das taten. Seine Fangzähne schnitten ihm in die Zunge, seine Haut überall am Körper wurde ihm zu eng, als Wut und Schmerz ihn transformierten. So war er am tödlichsten, wenn sein Verstand nicht mehr ihm gehörte. Wenn seine Teufelshände am unberechenbarsten waren und ihre magische Kraft am größten.

„Wir müssen dich irgendwohin bringen, wo uns niemand sieht“, sagte Dylan. Sie schob die Hände unter seine Schultern. „Halt dich an mir fest. Ich helfe dir aufzustehen.“

„Nein.“

„Was soll das heißen, nein?“

„Lass mich“, keuchte er.

Dylan stieß ein verächtliches kleines Schnauben aus. „Klar werd ich das. Du kannst hier so nicht liegen bleiben, mitten in Manhattan, und erwarten, dass keiner dich bemerkt. Komm jetzt. Aufstehen.“

„Ich ... kann ... will dich nicht anfassen. Will dir nicht wehtun, Dylan.“

„Dann tu's eben nicht“, sagte sie und machte sich daran, ihn auf die Füße zu wuchten.

Rio blieb nichts anderes übrig, als seine Hände auf ihre Schultern zu legen, um aufrecht stehen zu können, denn nun wurde der Nebel in seinem Verstand dichter und nahm ihm die Sicht. Er kämpfte gegen den Anfall an, wusste, dass Dylan am sichersten war, wenn er bei Sinnen blieb. „Stütz dich schon auf mich, verdammt“, befahl sie ihm.

„Ich bring dich in Sicherheit.“

Dylan zwängte sich unter Rios Arm und nahm sein Handgelenk in die Hand, lud sich so viel von seinem Gewicht auf, wie sie nur konnte, während sie überlegte, wohin sie ihn bringen konnte, welcher Ort abgeschieden genug war, dass er sich dort von dem Nachbeben des Anfalls erholen konnte, der ihn überkommen hatte. Sie führte ihn von der Flusspromenade fort und eine Seitenstraße hinauf, eine Einbahnstraße mit weniger Verkehr und bedeutend weniger Menschen in der Nähe, die nah genug herankommen und ihn in seinem veränderten Zustand sehen konnten.

„Geht's noch?“, fragte sie ihn und eilte auf eine alte Backsteinkirche zu, hinter der es dunkel und ruhig war. „Schaffst du es noch ein bisschen weiter?“

Er nickte und grunzte, aber jeder Schritt war schleppender als der davor. „Ich ... werde ohnmächtig ... hab einen Anfall...“

„Ja, das hab ich mir schon irgendwie gedacht“, sagte sie. „Es ist okay, Rio. Bleib bloß noch eine Minute bei mir, okay?“

Dieses Mal keine Antwort, aber sie konnte spüren, wie er sich anstrengte, aufrecht zu bleiben und sich zu bewegen, sich anstrengte, bei Sinnen zu bleiben, lang genug, dass sie ihm helfen konnte.

„Das machst du gut“, sagte sie ihm. „Fast geschafft.“

Sie zog ihn hinter dem Gebäude ins Dunkle und führte ihn zu einer Wandnische neben einer rostigen Tür, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Sie benutzte die Mauer als Rückenstütze für Rio und ließ ihn vorsichtig in sitzender Position auf den Boden gleiten. Sie warf einen schnellen Blick in beide Richtungen und sah mit Erleichterung, dass sie von der Seitenstraße aus verborgen und für eventuelle Passanten praktisch nicht zu sehen waren. Im Moment waren sie hier sicher.

„Sag mir, was ich tun soll, Rio. Was brauchst du, um das durchzustehen?“

Er antwortete nicht. Vielleicht konnte er es nicht mehr. Dylan strich ihm das dunkle Haar aus dem Gesicht und suchte in seinen Augen nach einem Zeichen, dass er noch bei sich war. Die schmalen schlitzförmigen Pupillen waren noch immer ein Schock für sie, ebenso die wilde bernsteinfarbene Glut um sie herum. Rios Augen glühten, als hätte er heiße Kohlen im Schädel. Jeder, der an der kleinen Kirche vorbeifuhr oder vorbeiging, musste blind sein, um diesen jenseitigen Lichtschein nicht zu bemerken.

Dylan sah auf die Tür und ihr altersschwaches Vorhängeschloss. Sie hatte Rio mit purer Willenskraft Lampen einschalten und Wasserhähne andrehen sehen, da sollte es ihm nicht schwerfallen, so ein altes Vorhängeschloss zu knacken. Nur war er offensichtlich nicht in der Lage, das zu versuchen. Sein Kopf fiel ihm auf die Brust, und mit einem gequälten Stöhnen fing er an, zur Seite wegzukippen.

„Scheiße“, zischte Dylan.

Sie verließ ihn nur so lange, um auf dem dunklen Boden nach etwas Schwerem zu suchen, und kam dann mit einem zerbrochenen Schlackenbetonblock wieder, der den Deckel eines Müllcontainers beschwert hatte. Der Hohlziegel war rau in ihren Händen, er schlug einen hellen Funken, als sie ihn gegen das Vorhängeschloss an der Kirchentür knallte. Es machte einen Heidenlärm. Trotzdem waren noch zwei weitere harte Schläge nötig, bevor das Schloss beiseite fiel. „Rio“, flüsterte sie wild und drückte seine schweren Schulter wieder hoch, „Rio, kannst du mich hören? Wir müssen dich da reinbringen. Kannst du aufstehen?“ Sie hob sein Kinn und starrte in offene Augen, die nun nichts mehr wahrnahmen, leere Feuergruben.

„Verdammt noch mal“, murmelte sie und zuckte zusammen. Welch eine unselige Wortwahl. Immerhin war sie gerade dabei, eine bewusstlose Kreatur der Nacht in den Schutz eines Gotteshauses zu verfrachten.

Vorsichtig drückte Dylan die Kirchentür auf und lauschte nach irgendwelchen Anzeichen, dass sich hier jemand aufhielt. Alles war ruhig in der kleinen Sakristei, und im angrenzenden Kirchenschiff brannte nicht ein einziges Licht.

„Okay, nichts wie rein in die gute Stube“, sagte sie atemlos, ging zu Rios Kopf herum und packte seine Arme, um ihn über die Schwelle zu ziehen.

Er war unglaublich schwer. Neunzig Kilo solider Muskeln und Knochen, und nichts davon half ihr. Dylan zerrte und schleifte ihn irgendwie in die Dunkelheit und schloss dann die Tür hinter ihnen.

Es dauerte nicht lange, in den Wandschränken ein paar Kerzen und eine Schachtel Streichhölzer zu finden. Dylan zündete zwei weiße Wachsstöcke an und schlüpfte wieder nach draußen, um den Hohlziegel als behelfsmäßigen Kerzenhalter zu holen. Sie steckte die Kerzenenden in seine zylindrischen Löcher und sah dann nach Rio.

„Hey“, sagte sie leise, beugte sich über seinen reglosen Körper, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Seine Augen waren nun geschlossen, aber bewegten sich rastlos hinter seinen Lidern, und an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Seine Glieder waren reglos, aber voller Anspannung, voll geballter Energie, die Dylan spüren konnte, als sie sich ihm näherte.

Sie streichelte sein Gesicht mit einer federleichten Berührung, fuhr mit der Rückseite ihrer Finger über diese makellose Wange, die ihn so atemberaubend machte, und die andere, die ihr das Herz brach. Wer hätte die letzten paar Tage vorhersehen können und all das, was sie in ihnen erlebt hatte? Was hätte sie auch nur annähernd darauf vorbereiten können, diesen komplizierten, unglaublichen Mann zu treffen?

Würde sie ihn wirklich vergessen können, selbst wenn er sich aus ihrer Erinnerung löschte, wie er es vorhatte? Sie hatte ihre Zweifel.

Selbst wenn ihr Verstand dazu gezwungen würde, ihn zu vergessen, zweifelte sie daran, dass ihr Herz es könnte.

Dylan beugte sich hinunter und presste ihre Lippen auf seinen schlaffen Mund.

Rios Augen sprangen auf. Seine Hände schossen so schnell um ihre Kehle, dass ihr nicht mehr genug Luft blieb, um zu schreien.

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